"Angst ist eine Möglichkeit der Selbstbestimmung"

Veröffentlicht in Psychologie Heute 2/07

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Der Psychotherapeut Arnold Retzer plädiert dafür, die Angst als einen Freund zu sehen, der einem sehr viel über einen selbst verraten kann


Psychologie Heute: Die Internationale Gesellschaft für systemische Therapie (IGST), deren Vorsitzender Sie, Herr Dr. Retzer unter anderem sind, veranstaltete Ende 2006 eine Tagung zum Thema „Zeiten der Angst – Ängste der Zeit“. In der Ankündigung dazu hieß es, wir lebten in einer „Angstgesellschaft“. Haben Ängste tatsächlich so zugenommen?

Arnold Retzer: Die Frage ist schwer zu beantworten, denn man bräuchte eine Messgröße und ein Messinstrument, um feststellen zu können, ob die Angst größer und mehr geworden ist. Und man müsste einen Messpunkt in der Vergangenheit haben. Insofern kann ich diese Frage eigentlich nicht beantworten. Was allerdings offensichtlich ist: Das Ansehen der Angst hat weiter abgenommen, Angst hat einen schlechten Ruf. Aus meiner Sicht sollte man daher weniger von einer Angstgesellschaft als vielmehr von einer Angstbekämpfungsgesellschaft sprechen. Dass dieser Begriff zutreffend ist, zeigt allein schon der Konsum von legalen und illegalen Drogen, die gegen die Angst zum Einsatz kommen.

PH: Das Ansehen der Angst ist gesunken, sagen Sie. Warum wird sie so geächtet?

Retzer: Es gibt verschiedene Gründe. Angst stört gesellschaftliche Abläufe. Denn in der Angst meldet sich das Individuum, und zwar in seiner ganzen existenziellen Höchstpersönlichkeit. Das wird als störend empfunden. Wir
leben zwar in einer Gesellschaft, in der Individualisierung ein Wert an sich ist, aber – polemisch gesprochen – nur solange man sie nicht merkt. Niklas Luhmann hat von „Funktionssystemen“ gesprochen. Das heißt, dass jeder von uns
gleichzeitig an unterschiedlichen Organisationen und Institutionen mit unterschiedlichen Regeln und Funktionen
teilnimmt und dort funktionieren muss. Und das Funktionieren dieser Funktionssysteme hängt vor allem davon
ab, dass sich Individuen nicht höchstpersönlich zu Wort melden. Nun ist Angst aber eine Möglichkeit, individuell
sichtbar zu werden. Weil Menschen wissen, dass das gesellschaftlich eher als störend empfunden wird, entwickeln
sie die Vorstellung, dass man nicht auffallen sollte, weil man sonst stören würde. Angst ist ein diskriminiertes Gefühl. Entdeckt man dieses Gefühl bei sich selbst, befürchtet man, stigmatisiert zu werden, aus der Rolle zu fallen, also in den Funktionssystemen nicht mehr zu funktionieren.

PH: Ist das der Grund, weshalb Angstgefühle stark tabuisiert sind? Wer Angst hat, spricht in der Regel nicht darüber oder nur unter vier Augen.

Retzer: Angst ist weit verbreitet, Angst gehört zum Menschsein dazu. Ein menschliches Leben ohne Angst ist weder
vorstellbar noch möglich. Gleichzeitig darf dieses entscheidende Merkmal des Menschseins nicht zu Wort kommen. Insofern wird das, was zwar massenhaft verbreitet ist, nur individuell erlebt und führt nicht zu einer sozial verbindenden Kollektivität.

PH: Was würde denn passieren, wenn Angst aus der Tabuzone geholt würde?

Retzer: Wenn sich individuelle Ängste im gesellschaftlichen Raum äußern würden, dann wäre damit eine Infragestellung von Grundprämissen unserer Gesellschaft verbunden. Also zum Beispiel, dass Fortschritt hilfreich ist,
dass die Möglichkeiten von Kontrolle in immer mehr Bereichen immer mehr zunehmen, dass wir immer mehr erreichen können – das sind alles Prämissen, nach denen wir leben. Angst stellt diese Annahmen infrage. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Eliminierung von Negativem durch Fortschritt die Ängste nicht besiegen kann. Ich spreche in diesem Zusammenhang vom „Gesetz der Penetranz der Reste“. Wir können viele Gefahren besiegen, doch die Penetranz dessen, was als Bedrohung oder Negatives bleibt, wird immer stärker, die Reste wiegen immer schwerer. Wir wittern überall Gefahren und fürchten, dass wir sie nicht in den Griff bekommen können. Wir haben Angst vor dem Risiko. Risiko meint, dass es Entscheidungen
und Situationen gibt, die von mir abhängen und die ich unter Unsicherheit treffen muss, das heißt ohne ausreichendes Wissen, ob es die richtige Entscheidung ist.

PH: In der Angst ist man also mit sich selbst konfrontiert: Ich muss entscheiden, ich muss handeln. Das macht Angst und nicht die reale Situation?

Retzer: Genau. Aber die Furcht vor der so genannten realen Situation wird häufig zur Erklärung herangezogen. Hier taucht der wichtige Unterschied zwischen Furcht und Angst auf. Die Frage ist zum Beispiel: Haben Tiere Angst? Tiere haben keine Angst, sie haben Furcht. Ein Hund hat Furcht vor äußeren Gefahren, aber er hat keine Angst vor einer eigenen Entscheidung, denn er kann nicht entscheiden, er ist vom Instinkt geleitet, er muss instinktiv
handeln. Also: Tiere müssen handeln, Menschen können handeln. Und im Können liegt die Quelle der Angst. Dort stellt sich die Frage, wie weit man Möglichkeiten in Wirklichkeiten
überführt. Das ist das, was der Philosoph Kierkegaard als den „Sprung“ bezeichnet, den Sprung, der zu einer neuen Wirklichkeit führt und den man auf eigenes Risiko vollführt.

PH: Früher war dieses Risiko nicht so groß: Da gaben Familie, Religion oder Staat vor, was richtig und was falsch ist. Heute fehlen diese Ratgeber.

Retzer: Zumindest sind sie nicht mehr so glaubwürdig. Allerdings entsteht eine neue Sehnsucht danach, von Autoritäten, wem auch immer, gesagt zu bekommen, wo es langgeht. Der Erfolg der neokatholischen Frömmelei ist für mich ein Beispiel dafür. Immer geht es
um die Bekämpfung der Angst, man möchte sich von der eigenen Verantwortung entlasten und sie an jemand anderen abgeben.

PH: Wer Angst empfindet, sieht in diesem Gefühl einen Feind. Ist es da nicht normal, dass man ihn bekämpfen und damit loswerden möchte?

Retzer: Natürlich, dennoch kann es ein Fehler sein, die Angst zu bekämpfen. Wenn man versucht, sie in den Griff zu bekommen, führt man ihr nur noch mehr Energie zu. Also wenn man zum Beispiel bei einem Vortrag aufgeregt ist und versucht, sich zusammenzunehmen
und sich nichts anmerken zu lassen, hat das in den meisten Fällen den Effekt, dass man noch ängstlicher wird. Die Bekämpfung der Angst führt zur Stärkung der Angst.

PH: Die Verhaltenstherapie konfrontiert die Betroffenen mit ihren Ängsten.
Ist diese Exposition der bessere Weg?


Retzer: Die Exposition in der Verhaltenstherapie scheint mir eine effektive Methode zu sein, weil sie die Angst eben nicht bekämpft, sondern sogar noch steigert. Goethe hat zum Beispiel seine Höhenangst dadurch bewältigt, dass er sich gezwungen hat, trotz Angst aufs Straßburger Münster zu steigen.


PH: Nun wird aber immer öfter die Kritik laut, dass das verhaltenstherapeutische Vorgehen nur kurzfristig erfolgreich sei. Über Langzeiterfolge weiß man noch wenig.

Retzer:
Das ist in der Tat ein Teil der Kritik. Für mich ist jedoch wichtiger zu bedenken, dass nicht jeder Angstklient bereit und fähig ist, sich der Angst auszusetzen und beispielsweise aufs Straßburger Münster zu steigen. Ich verwende auch die Exposition in meinen Therapien.
Allerdings gehe ich nicht mit meinen Klienten tatsächlich aufs Münster oder steige mit ihnen in ein Flugzeug. Man kann sich auch imaginativ mit der Angst konfrontieren. Man fragt zum Beispiel den Klienten: „Wenn auf einer Skala von 1 bis 100 der Wert 100 für panische Angst steht und 1 für keine Angst, was müssten Sie tun, um auf den Skalenwert 50 oder 70 zu kommen? Und dann halten Sie den Skalenpunkt 70 etwa 24 Minuten lang.“ Da können Klienten oft zum ersten Mal die Erfahrung machen, dass sie die Angst selbst erzeugen können, dass es jedoch sehr schwer oder sogar unmöglich ist, diese lange aufrechtzuerhalten. Die Angst verschwindet dann oft von selbst.

PH: Das ist aber nicht der einzige Unterschied zwischen verhaltenstherapeutischer und systemischer Angsttherapie?

Retzer: Nein. Es bedarf oft noch anderer Methoden, um Angststörungen effektiv zu behandeln. Zum Beispiel dem Klienten den Blick zu öffnen auf die positiven Seiten der Angst. Im systemischen Denken gilt der Grundsatz: Positiv besetzte Kontexte können leichter
verlassen werden als negativ besetzte. Wenn die Angst der Feind ist, dann gibt es wenig Möglichkeit, auf Dauer von der Angst wegzukommen. Wird die Angst dagegen auch als Freund betrachtet, kommt das einer Lösung oft näher.

PH: Das dürfte für einen Angstpatienten zunächst zynisch klingen. Er leidet so unter seiner Angst, und nun sagen Sie, die Angst kann auch ein Freund sein. Wie bringen Sie einem Angstklienten den Gedanken nahe, dass seine Angst eine positive Seite hat?

Retzer: Ich arbeite dann häufig mit Externalisierung. Das heißt, ich frage den Klienten oder die Klientin: „Wenn die Angst eine Person wäre, wäre sie eher ein Mann oder eine Frau? Wo steht sie im Raum? Links oder rechts von Ihnen? In welchen Situationen könnten Sie die Angst einladen, um das oder jenes zu erreichen?“ Damit lade ich den Klienten ein, seine Sichtweise zu verrücken: Die angebotenen Probleme werden nicht nur als Leid erzeugend betrachtet, sondern ich bringe auch die andere Seite ins Blickfeld, nämlich dass sie eine Funktion, dass sie positive Seiten haben. Ich verbünde mich nicht mit dem Klienten, um einen Kampf gegen das Problem zu führen, sondern bin ein neutraler Begleiter, der alle Facetten der
Angst beleuchtet, eben auch die positiven.

PH: Was aber kann positiv an der Angst sein?

Retzer: Da gibt es eine ganze Menge. Die Angst macht uns auf uns selbst aufmerksam. Ich habe Angst, also bin ich. Wenn ich frage: „Was könnte Ihnen die Angst in einer konkreten Situation ermöglichen?“, dann ist das im Grunde eine geleitete Selbstreflexion. Der Ängstliche wird auf sich selbst aufmerksam. Angst ist eine Möglichkeit der Selbstbestimmung.


PH: Angst hilft mir also, mich in bestimmten Situationen selbst besser kennen zu lernen?

Retzer: Sie zeigt mir vor allem, wie ich mit Entscheidungen umgehe. Häufig gehen wir im Fall von Entscheidungen so vor: Es gibt zwei Optionen, was spricht für die eine, was für die andere? Das halte ich für problematisch. Entscheidungen können niemals in einem Entscheidungsprozess selbst gefällt werden. Wir brauchen einen Maßstab, um die Optionen abzuwägen.
Wenn es zum Beispiel um die Frage geht, soll ich heiraten oder nicht, dann kann man fragen: Was spricht für diese Frau, was dagegen? Um eine wirkliche Entscheidung treffen zu können,
müsste ich jedoch vielleicht fragen: Welche Bedeutung in meiner Biografie hat diese Entscheidung? Ich hatte mal eine Anfrage von einem Mann, der mir am Telefon sagte, er wolle seine Ehe retten. Das Paar kam dann, und meine erste Frage war: „Warum wollen Sie Ihre Ehe retten?“ Das ist die Frage nach der Entscheidungsprämisse. Man kann sehen, dass sich in der Angst vor dem Risiko oder der Angst vor einer falschen Entscheidung eigentlich immer die Frage verbirgt: Nach welchen Prämissen, nach welchen Wertmaßstäben treffe ich diese Entscheidung? Diese grundlegende Frage, deren Antwort uns über uns selbst Auskunft
geben könnte, wird heute meist ausgeblendet. Die Angst wird nicht als Vehikel zur Selbstreflexion genutzt. Ohne nachzudenken, eilen wir von einer Entscheidung zur anderen. Die grundlegende Frage nach den eigenen Prämissen wird oft nicht gestellt.

PH: Die Angst könnte also ein Zeichen dafür sein, dass ich eventuell etwas tue, was nicht zu meinen Maßstäben passt?

Retzer: Das wäre eine Möglichkeit. Eine andere: Die Angst, die ich spüre, ist ein Signal zum Nachdenken. Zum Beispiel: Will ich etwas verändern oder will ich nichts verändern? Wir leben ja in einer Zeit, in der Veränderung ein weitaus besseres Ansehen hat als Nichtveränderung – die Psychotherapie ist daran nicht ganz unschuldig. Die Angst zeigt uns, dass sich das Nachdenken über die Frage lohnt: Was will ich, was will ich nicht, will ich überhaupt? Also nachzudenken, ob möglicherweise Nichtveränderung auch eine Option sein kann, die mit meinen Wertmaßstäben bis auf weiteres vereinbar ist.

PH: Wenn Angst ein Signal dafür ist, dass ich keine Veränderung wünsche, mir aber Veränderung aufgezwungen wird, was mache ich dann?

Retzer: Das zu erkennen ist schon die halbe Miete. Man wird auf sich selbst aufmerksam. Und dann stellen sich häufig viel mehr Möglichkeiten, als man glaubt, beispielsweise dass man sich befreit von dem Druck, schnell entscheiden zu müssen. Die Angst ist eine Zeitdehnungsressource. Sie stellt Zeit zum Nachdenken zur Verfügung. Insofern ist Angst Sand im Getriebe.

PH: Die positiven Seiten der Angst zu sehen, das ist ein Weg, der Angst therapeutisch zu begegnen. Gibt es noch weitere?

Retzer:
Ich habe die Erfahrung gemacht, dass die Furcht, die man vor äußeren Gefahren hat, vor Spinnen, vorm Fliegen und Ähnlichem, oft ein Versuch ist, von der eigentlichen persönlichen Angst abzulenken. Und diese eigentliche Angst ist manchmal die Todesangst.
Es kann ein Wendepunkt in Therapien sein, wenn diese Todesangst angesprochen wird. Das verschafft Erleichterung. Die Erkenntnis, dass man es nicht verhindern kann, dass man sterben
muss, bringt Entlastung. Die Furcht vor einer tödlichen Krankheit oder einem Flugzeugabsturz oder einem Herzstillstand verliert dadurch an Kraft. Es ist ein Reifungsprozess, wenn man sich von der Illusion verabschieden kann, das Leben unter Kontrolle zu haben. Ich nenne es eine „reife Resignation“, wenn man erkennt, dass man in diesem Punkt machtlos ist. Resignation heißt dabei nicht, deprimiert aufzugeben. Es bedeutet vor allem, Ballast abzuwerfen, nämlich den Ballast der irrigen Vorstellungen, dass wir vielleicht doch unsterblich sind, wenn wir es nur schaffen, alle Gefahren in den Griff zu bekommen.

PH: Würden Sie sagen, dass sich hinter allen Ängsten die Todesangst verbirgt?

Retzer: So weit würde ich nicht gehen. Ich glaube aber, dass das eine hoch relevante Angst ist, die natürlich auch von der jeweiligen Lebenssituation und vom Alter abhängig ist. Aber letztlich steht sie oft im Hintergrund, wenn eine Angststörung vorliegt. Denn der Tod ist ein Skandal. Schließlich ist uns doch allen der Fortschritt versprochen worden, und dann müssen wir doch sterben. Dem Tode ins Auge zu schauen, das ist eine Möglichkeit, zum Hedonisten
zu werden und zu akzeptieren, dass letztlich nichts zu machen ist.

PH: Aber macht das nicht erst recht Angst?

Retzer: Jetzt sind Sie der Vorstellung auf den Leim gegangen, dass das Leben nur lebenswert ist, wenn was zu machen ist. Ich würde umgekehrt sagen: Dort, wo nichts mehr zu machen ist, fängt das Leben erst an. Deshalb halte ich auch die Hoffnung für problematisch. Weil die Hoffnung einen sozusagen immer wieder auffordert, etwas tun zu können beziehungsweise zu hoffen, dass sich etwas Erwünschtes einstellt. Damit entsteht ein Problem. Die Haltung „Es ist
nichts zu machen“ als Ressource zu begreifen scheint mir dagegen enorme Möglichkeiten zu erschließen.

PH: Braucht man nicht Mut, um sich auf diese Weise mit seiner Angst zu konfrontieren?

Retzer: Häufig wird ja Mut mit Furchtlosigkeit gleichgesetzt. Das heißt, mutig zu sein bedeutet, keine Angst zu haben. Das ist völlig falsch. Mut hat die Angst zur Voraussetzung. Mut heißt, trotz Angst kühn zu denken und zu handeln. Der Ängstliche ist der Mutige. Vor den Furchtlosen kann einem dagegen angst werden.


Mit Arnold Retzer sprach Ursula Nuber

Veröffentlicht in: PSYCHOLOGIE HEUTE 02/2007